Schach und Leben

Computer können rechnen, sonst nichts.
Millionen von Schachzügen pro Sekunde.
Stur und systematisch.
Es wäre falsch zu sagen: Sie übersehen nichts.
Oder: Sie machen keine Rechenfehler.
Sie können ja gar nichts anderes, als ihre Algorithmen
abzuspulen.
Immer und immer wieder.
Mit einer immer weiter sich steigernden Geschwindigkeit.
Mit jeder neuen Computergeneration, die der Mensch erschafft,
erhöht sich ja die Rechengeschwindigkeit.

Wir Menschen sind anders.
Ganz grundsätzlich anders.
Bei uns sind Emotionen beteiligt.
Und das bringt Farbe in unser Leben, Frische, Einmaligkeit.
Computer aber kennen keine Emotionen,
sie haben kein Bewusstsein,
sie wissen nicht, was sie tun.

Körper, Seele und Geist.
Beim Menschen innig miteinander verwoben.
Ein Körper auf Kohlenstoffbasis.
Da kann eine Maschine auf Siliziumbasis nicht mithalten.
Kein Stoffwechsel, kein Wachstum, keine Beziehung zur Natur, …
Und dann erst Seele und Geist.
Das sind keine Wesenselemente eines Computers.

Menschen können sich berühren lassen von Schönheit.
Sie können staunen, wenn ihnen Schönheit begegnet:
In der Natur, in der Liebe, im Kinderlachen,
bei einer komplexen Kombination im Schach.
Staunen können Menschen allein schon darüber,
dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts.

Seele und Geist. Sie sind essentiell für uns Menschen,
aber keine Daseinselemente für Computer.
Der Computer „weiß“ nicht einmal was „er“ tut,
wenn er eine Schachstellung berechnet.
Ein Computer ist nicht einmal Autist.
Er ist schlicht ein Rechenapparat.
Nicht mehr und nicht weniger.

Wir Menschen aber müssen immer wieder genau hinschauen,
wie wir mit diesen Apparaten umgehen.
Wir können sie in vielfältiger Weise nutzen,
so dass sie uns manche Aufgabe erleichtern
oder gar erst ermöglichen.
Aber wir dürfen nicht Entscheidungen,
die wesentlich menschlich sind,
oder die wesentlich mit dem Leben zu tun haben,
an Rechenmaschinen delegieren.
Denn Leben lässt sich nicht in Algorithmen bannen.
Leben ist auch niemals eine Rechenaufgabe.

Wenn in diesen Tagen in Kasachstan
zwei Spieler der schachlichen Weltelite
einen Wettkampf um den Weltmeistertitel austragen,
bei dem es nach sechs Partien 3:3 steht,
dann staunt das Fachpublikum,
dass vier dieser sechs Partien
nicht mit einem Remis endeten,
sondern mit einem Sieg des einen oder anderen Kontrahenten.
Das wäre zwei Computern,
die beide mit einem Stockfish-Schachprogramm
mit einem Elo-Rating von 3500 bestückt wären,
nicht passiert.
Da stünde es nach sechs Partien wahrscheinlich auch 3:3,
doch wären wohl alle Partien remis ausgegangen.

Und in diversen Youtube-Kanälen kann man zeitnah verfolgen,
wie ein beliebiger Kommentator
schlauer sein kann als die Spieler selbst,
schlicht deshalb, weil er jeden Zug
von einem Computer prüfen lassen kann.

Hier erleben wir eine gewisse Schieflage:
Wir sind, wenn wir genügend geschulte Amateurschachspieler sind,
fasziniert von dem, was die Weltelite aufs Brett zaubern kann,
doch zugleich erleben wir, wie parallel dazu
jede kleinste Ungenauigkeit vom Computer gnadenlos aufgedeckt wird.
Wie wirkt das auf uns? Wie erleben wir das?
Wie beeinflusst das unsere Kultur?

Stellen wir uns einmal vor,
man würde ein spannendes Fußballspiel,
etwa in der Champions League oder bei einer Weltmeisterschaft,
nicht nur live sehen, sondern parallel dazu
würde eine Computeranimation laufen,
die permanent nachweist, wo besser, genauer, präziser
hätte gespielt werden können …
Der Reiz des Spieles ginge verloren.
Der ständige Vergleich des Tatsächlichen
mit dem Perfekten oder nahezu Perfekten
würde in einer öden Langeweile enden.

Mögen wir Menschen uns weiterhin am Schach erfreuen,
mögen wir die Unvollkommenheit,
mit der wir spielen,
schätzen und lieben lernen.
Mögen wir den Schmerz der Niederlage erleben,
der uns mit dem Geschenk des Wachsens
in Verbindung bringen kann.
Mögen wir die Freude empfinden,
die sich bei gelungenen Partien einstellt.
Mögen wir die pure Schönheit erfahren,
wenn wir Meisterpartien nachspielen oder wenn wir
in die Geheimnisse komponierter Stellungen eintauchen.

Mögen wir Schach als Medium kultivieren,
das uns in Verbindung bringt –
mit uns selber,
mit anderen,
und letztlich
mit dem Netzwerk des Lebens.